Bericht von der Global Investigative Journalism Conference

Die Zeit der einsamen Wölfe ist vorbei

Der weltweite Branchenevent für investigative Medienschaffende fand dieses Jahr in Göteborg, Schweden, statt. Das Schlagwort der Stunde: Radical Sharing. Grenzüberschreitende Recherchen sind seit mehreren Jahren im Aufwind – aus guten Gründen. Geschäftsführerin Eva Hirschi war für investigativ.ch an der Konferenz.

Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst im Fachmagazin „Schweizer Journalist:in“ (PDF). Die gesamte Ausgabe des Magazins kann hier nachbestellt werden.

„How to use Teletubbies to catch Baltic organized crime“, „Fish, cotton and sperms: the magic of DNA“, „Why be an aircraft nerd?“ oder „How to steal a gold mine“: Dies sind nur einige Inhalte der rund 200 Workshops und Werkstattgespräche, welche die Teilnehmenden – darunter rund 40 Journalistinnen und Journalisten aus der Schweiz – der viertägigen Konferenz
zu Investigativjournalismus im schwedischen Göteborg vor die Wahl der Qual stellten.

Die alle zwei Jahre stattfindende Global Investigative Journalism Conference (GIJC) ist die weltweit grösste internationale Zusammenkunft von Investigativjournalisten. 2001 fand sie erstmals in Kopenhagen statt, 2010 organisierte das Recherchenetzwerk investigativ.ch die Konferenz in Genf. Aus dem früheren Nischenanlass hat sich ein Mega-Event entwickelt, der dieses Jahr alle Rekorde brach: Mehr als 2.100 Medienschaffende aus der ganzen Welt nahmen an den Schulungen, Workshops, Panels, Networking- und Brainstorming-Sitzungen teil.

Das grosse Interesse zeigt: Einerseits befindet sich der Investigativjournalismus seit einigen Jahren in starkem Aufwind. Auch in der Schweiz ist diese Tendenz feststellbar, mehrere Medien haben eigene Investigativteams aufgebaut, zudem sind neue unabhängige Recherchekollektive wie Reflekt, WAV oder Gotham City entstanden. Andererseits gründete der Andrang in Göteborg auch im nach der Corona-Pause starken Nachholbedarf an internationalem Austausch. Genau dies war eines der Hauptthemen der Konferenz: Cross-Border-Journalismus, sprich Journalismus über die Grenzen hinweg.

Ressourcen bündeln

Länderübergreifende Recherchen sind nicht neu. Die Recherche „Tobacco Underground“ von 2008 über den weltweiten Handel mit geschmuggelten Zigaretten gilt als eine der ersten grösseren Cross-Border-Recherchen. Sie wurde vom Center for Public Integrity in Washington, D. C., koordiniert, einer vom US-amerikanischen Journalisten Charles Lewis gegründeten Non-Profit-Organisation für investigativen Journalismus. Daraus entwickelte sich später das renommierte International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ), das durch die Publikation der Offshore-Leaks, Panama Papers und Paradise Papers weltweit bekannt wurde.

Das Modell ist simpel: Verschiedene Journalistinnen recherchieren gemeinsam ein Thema, das in all ihren Ländern Aktualität hat. Sie sammeln und teilen Informationen und Dokumentation, kontrollieren sie gegenseitig und ergänzen. Die Resultate publizieren sie zwar in der Regel zeitgleich, aber auf das jeweilige Zielpublikum angepasst. Es handelt sich somit nicht einfach um einen Artikel, der zigfach geteilt wird, sondern um unterschiedliche Beiträge zum selben Thema.

„Der Netzwerk-Journalismus ist eine Antwort auf die Netzwerk-Gemeinschaft“, sagt die britische Journalistin Hazel Sheffield von der Stiftung für investigativen Journalismus „Arena for journalism in Europe“, welche länderübergreifende Recherchen in themenspezifischen Netzwerken koordiniert und fördert. Durch die gemeinsame Recherche können Kräfte gebündelt werden – in einer unter starkem finanziellen Druck stehenden Branche kein unbedeutendes Argument. Dies vor allem auch, weil durch die Digitalisierung die Datenmengen exponentiell zugenommen haben und die Dokumente oftmals Tausende Seiten oder mehrere Terabyte schwer sind. Doch es geht um mehr als nur Einsparungen an Zeit und Geld: Hinzu kommen auch Zugang und Fachwissen.

Statt extra eine amerikanische Journalistin nach Genf fliegen zu lassen, kann ein Schweizer Kollege den Briefkasten einer gewissen Firma kontrollieren. Statt sich mit komplizierten Codes herumzuschlagen, überlässt man die Datenanalyse einem Experten. Auch die Kommunikation ist nicht zu vernachlässigen: So kann man auf Medienschaffende spezifischer
Sprachen zurückgreifen statt auf Dolmetscher ohne journalistische Fachkompetenz – was etwa bei den Konfrontationen Betroffener relevant sein kann. Auch interkulturelle Unterschiede bei der Verständigung werden so überbrückt.

Besserer Schutz vor Klagen

Nicht zuletzt ermöglichen Kollaborationen auch besseren Schutz vor juristischen Angriffen. Einschüchterungsmittel wie superprovisorische Verfügungen oder Slapp (strategic lawsuit against public participation) werden zur Makulatur, wenn die Informationen in zahlreichen Medien – auch im Ausland – zu finden sind. Der Quellenschutz profitiert ebenfalls. „Mehr Impact, weniger Risiko“, so fasst es Emilia Díaz-Struck zusammen, Geschäftsführerin des Global Investigative Journalism Network, das die GIJC organisiert.

Inzwischen gibt es mehrere Netzwerke, die länderübergreifende Recherchen koordinieren. 2016 kamen gleich zwei europäische Netzwerke hinzu: Investigate Europe sowie European Investigative Collaborations (EIC). Bei EIC ist auch die Westschweizer Radio und Fernsehen RTS Mitglied. Eines der jüngsten Publikationsbeispiele dieses Netzwerks: die Predator Files über eine Spionagesoftware für Smartphones, an deren Recherche auch die „Wochenzeitung“ (WOZ) beteiligt war.

Auch ausserhalb Europas entwickeln sich Netzwerke. In Asien hat sich etwa das Environmental Reporting Collective (ERC) einen Namen gemacht. Selbst Finanzierungsquellen explizit für Cross-Border-Recherchen gibt es, wie etwa den von mehreren Stiftungen sowie der EU mitfinanzierten Journalismfund.eu mit Sitz in Brüssel oder den von mehreren Organisationen unterstützten Fund Investigative Journalism for Europe (IJ4EU), der ebenfalls von Stiftungen sowie der Europäischen Kommission finanziert wird.

Vertrauen als Grundlage

Interessant ist: Nicht nur grosse Medienhäuser, auch immer mehr Freelancer und kleine Medien arbeiten in länderübergreifenden Konsortien mit. Für Trittbrettfahrer gibt es allerdings keinen Platz: Der französische Journalist Laurent Richards von Forbidden Stories adressierte in einem der Panels direkt an die Medienhäuser und Redaktionsleiter: „Seht Kollaborationen nicht als einfache Möglichkeit, Leaks und Scoops zu erhalten. Die Journalisten müssen immer noch raus ins Feld.“

Immer wieder wurde in Göteborg betont, wie wichtig das Vertrauen bei gemeinsamen Recherchen sei. Vertrauen, dass alle mit anpacken. Vertrauen, dass niemand den Scoop vor den anderen publiziert. Konkurrenzdenken sei fehl am Platz, sagte Laurent Richards und fügte an, dass es der Branche ohnehin guttue, wenn die grossen Egos weniger im Vordergrund stünden. Das sieht auch der deutsche Investigativjournalist Frederik Obermaier so: „Die Autorenzeile mag durchaus mehrere Namen vertragen.“ Nicht vergessen gehen sollten etwa auch Fixer.

Frederik Obermaier, der zusammen mit dem Journalisten Bastian Obermayer 2016 die weltweiten Panama-Papers-Enthüllungen initiierte und dafür 2017 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, stellt eine neue Tendenz fest: „Wir treten in eine neue Phase des kollaborativen Journalismus ein.“ Er nennt sie die Phase des radikalen Teilens: „Die junge
Generation kennt dieses Einsamer-Wolf-Milieu ohnehin nicht.“ Auch in anderen Bereichen könne man zusammenarbeiten, etwa beim Factchecking oder bei juristischen Abklärungen. „Auch Anwälte sollten sich austauschen.“

Wissenschaft und Gesellschaft involviert

Selbst in der Wissenschaft sind kollaborative Recherchen angekommen. Die französische Investigativjournalistin Stéphane Horel von „Le Monde“ war federführend beim „The Forever Pollution Project“, einer Recherche über PFAS-Kontamination in Europa, die Anfang Jahr publiziert wurde. Auf einer interaktiven Karte ist die Belastung dieser sogenannt ewigen Chemikalien aufgezeigt, die je nach Konzentration eine erhebliche Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellen können. Für diese Recherche, bei der auch das Schweizer Radio und Fernsehen SRF beteiligt war, arbeiteten die Journalistinnen eng mit Sozial- und Umweltwissenschaftlerinnen zusammen. Stéphane Horel spricht denn auch von einer neuen Art von Journalismus, dem „Peer-Review-Journalismus“.

Kollaborationen mit der Zivilgesellschaft wiederum wollen die Bevölkerung zu miteinbeziehen. Ein Beispiel ist die Recherche „Wem gehört Hamburg?“ von 2018, bei der das deutsche Recherchenetzwerk CORRECTIV gemeinsam mit dem „Hamburger Abendblatt“ sowie der Unterstützung von mehr als 1000 Mieterinnen und Mietern Licht in die Eigentumsverhältnisse im Hamburger Wohnungsmarkt brachten. Die Recherche – eine der ersten dieser Art – wurde mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

Solche Beispiele gibt es auch in der Schweiz: So hat das Magazin „Beobachter“ 2021 seine Leserschaft aufgerufen, gefährliche Stellen auf dem Schulweg zu melden. Fast 600 Rückmeldungen konnten ausgewertet werden. Für diese Recherche hat der Beobachter mit dem Schweizer Ableger von CORRECTIV zusammengearbeitet, dem CORRECTIV CrowdNewsroom. Ziel seiner Online-Plattform ist es, dass Bürger und Journalisten gemeinsam recherchieren und für die Gesellschaft relevante Missstände aufdecken.

Mehr Glaubwürdigkeit

Ob mit Journalistinnen unterschiedlicher Medien oder mit Vertretern aus der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft: Immer stärker wird im Journalismus auf Teamarbeit gesetzt. Für Laurent Richards von Forbidden Stories können solche kollaborativen Recherchen durchaus auch ein Mittel für mehr Glaubwürdigkeit sein, um das Vertrauen der Gesellschaft wieder zu erlangen. „Wenn verschiedene Medien gemeinsam einen Skandal aufdecken, dann widerlegt das die Hypothese, eine Zeitung verfolge eine eigene Agenda.“ Die Konferenz in Schweden bot auch die Gelegenheit, neue länderübergreifende Recherchen zu initiieren – wir dürfen gespannt sein.